Wer erinnert sich nicht an unsere altehrwürdige, aber dennoch unvenvüstliche
Ortshebamme, Frau Martha Fiss! Sie war doch so etwas wie ein Original, eine
Institution, in ihrer Robustheit ein wahres ,,Eisernes Pferd". Auf jeden Fall aber
war sie ,,lebenswichtig". Denn sie hat viele von uns ,,geholt"; d. h. uns dazu
verholfen, das elektrische Licht der Welt zu erblicken (frei nach Heinz Erhardt).
Bei einigen von uns war es in den 20er oder 30er Jahren auch nur eine antike
Petroleumfunzel, die es dann eben auch tun musste.
In meiner Familie waren wir zwei Mal auf ihre Hilfe angewiesen, 1939 und
1940 bei der Geburt unserer Nachkömmlinge Hartmut und Astrid.
Zum Erreichen ihrer Einsatzorte war Frau Fiss auf ihr stabiles, altbewährtes
Fahrrad angewiesen. Durch den ständigen intensiven Gebrauch hatte es nicht
nur einige Blessuren davongetragen, sondern war stark ramponiert - aber als
Fahrrad konnte man es noch erkennen. Wenn sie in rasender Fahrt zu ihrem
Einsatzort untenvegs war (bei Dunkelheit ohne Licht), kam sie angebraust wie
eine wildgewordene Furie - meistens auf dem Bürgersteig. Da galt für uns, die
wir als friedliche Fußgänger des Weges kamen: Rette sich wer kann.
Schleunigst mussten wir uns an die Seite drücken und in Sicherheit bringen, um
einen Crash zu vermeiden. Ihr ständiger Einsatz Tag und Nacht, zu allen
Jahreszeiten, bei Sonne und Mond, Regen, Schnee und Eis war Kräfte zehrend
und Nerven aufreibend. Ach so - eine Sonderausstattung an ihrem Fahrrad
fallt mir noch ein. Am Lenker befanden sich bis fast zu den Ellbogen reichende
Stulpen, die vor der Kälte des Fahrtwindes schützen sollten. Denn dort wo sie
ihre Arbeit zu verrichten hatte , brauchte sie doch warme Hände, um nicht die
Wöchnerin oder gar den neuen Erdenbürger mit kalten Händen zu erschrecken.
Das Einsatz- und Operationsgebiet von Frau Fiss war groß, und Geburten
gab es viele (was sollten die Leute auch sonst machen). Mit voller Wucht kam
die ganze Welle auf sie zu, nachdem ihre Kollegin Frau Burowski ihre Dienste
altershalber einstellen musste.
Soweit die Vorgeschichte...
Als Frau Fiss die vielen Entbindungen nicht mehr bewältigen konnte,
hatte die Obrigkeit ein Einsehen mit ihr.
1939 oder 1940 stellte sie, diese Obrigkeit nämlich, der Frau Fiss ein Auto zur
Verfügung, wohl gebraucht - aber immerhin. Ich weiß es nicht mehr genau -
war es ein DKW Wupptich oder ein Opel Laubfrosch.
Unsere nicht mehr gerade in der Blüte ihrer Jahre stehende Hebamme machte
Fahrschule und Führerschein. Bei ihrem Temperament und ihrer Ungeduld (die eigentliche Arbeit wartete doch auf sie) soll es dabei nicht immer sehr harmonisch zugegangen sein.
Im Winter 1939/1940 waren 2 Kompanien
Soldaten in Praust einquartiert.
Das Gros überwinterte in den Sälen des
Prauster Hof und dem von Helmut Kucks (vormals Kresin).
Der Antrete- und Appelplatz war vor der Gastwirtschaft Kucks, wo auch Frau
Fiss mittendrauf ihr Auto abgestellt hatte.
Eines Morgens war die Einheit angetreten. Forschen Schritts und mit
geschwellter Brust strebte Frau Fiss auf ihr vor der Kolonne abgestelltes
Fahrzeug zu.
Die
Kameraden machten ihre Witze wie: Oma was - willst du
etwa auch noch Auto fahren? Darauf sie in ihrer resoluten Art: Die Oma wird
euch jungen Bettenbauern (oder Hüpfern - der genaue Ausdruck ist nicht mehr
bekannt) mal zeigen, wie sie Auto fahren kann. Tür auf und mit Schwung rein
in die Karosse. Mit ziemlich viel Gas und erheblicher Lautstärke des Motors
wollte sie es den Landsern mit einem Kavalierstart mal zeigen und Eindruck
schinden.
Interessiert schaute die Truppe zu. Doch in dem Disput und bei der Aufregung
Hatte Mutter Fiss den Rückwärtsgang geschaltet. Statt eines flotten Starts nach
vom machte das Vehikel einen gewaltigen Satz rückwärts auf die Formation zu.
Die Jungens sind zur Seite gespritzt, gerade als wenn sie das geahnt hätten.
Gleichzeitig würgte die Fahrerin den Motor ab und stand fassungslos (eine
wahre Seltenheit bei ihr) zwischen den Männern; sie verstand die Welt nicht
mehr.
Der Kommentar der beinahe Verwundeten: Donnernetter, jetzt haben wir
aber gesehen, wie die Oma fahren kann.
Diesen Vorfall habe ich nicht selbst erlebt. Er wurde uns von Tochter Ulla im
Beisein ihrer Mutter, die dem nicht widersprach, bei einem Tag der Danziger in
Kiel geschildert. Wenn sie diese Zeilen lesen sollte, mit denen wir sie vielmals
grüßen, wird sie sich vielleicht noch daran erinnern.