Hier erzählt Magda Bils-Trojahn was sie erlebte und fühlte als der 2. Weltkrieg begann. Auszug aus ihrem Buch “Bei uns zu Hause - Die letzten Tage in Praust“
Die Auswirkungen des 2. Weltkrieges trafen uns - teilweise persönlich - mit aller Härte von Ende 1944 bis März 1945.
Während meines Pflichtjahres hatte ich auf dem Bauernhof zwei englische Kriegsgefangene kennengelernt. Niemand durfte mit ihnen sprechen. Verboten. Doch wer sah das schon. Ulkig war, dass die beiden sich nicht miteinander verständigen konnten, denn der eine kam aus dem Norden, der andere aus dem Süden Englands. Es gelang mir mit meinem Schulenglisch, die beiden sprachlich näherzubringen. Sie sahen gut ernährt aus, genauso wie die französischen Gefangenen, die auf unserer Dienststelle die Rechenmaschinen warteten. Die russischen Gefangenen dagegen sahen erbärmlich aus. Sie taten uns leid. Wir gingen - trotz einer drohenden Strafe - wie rein zufällig an ihnen vorbei und legten Brotscheiben und Pellkartoffeln in ihrer Nähe ab. Diesen tierischen Kampf unter den abgemagerten Männern möchte ich nicht näher beschreiben.
An einem kleinen Abhang an der Bahnhofstraße lag ein toter Russe. Er hielt seinen Essnapf völlig verkrampft in seinen Händen. Verhungert, erfroren.
Ich saß in unserem Wohnzimmer und las, als ich Geräusche in der Wohnung hörte. „Bist du das?“ rief ich, ich glaubte, glaubte eine meiner Schwestern wäre gekommen. Als ich keine Antwort erhielt verließ ich das Zimmer. Vor mir im Flur stand tiefgebeugt, die Hände zum Gebet gefaltet , dann einen Finger auf die Lippen legend. Sein Kopf war kahlgeschoren. Im Raum stand Gefahr, für ihn und für mich. Er reagierte nicht auf meine Frage ob es was zu trinken haben möchte, vielmehr deutete seine Geste mir an, daß er Schutz suchte. Ich deutete aufs Wohnzimmer, wo er sich hinter der Tür versteckte. Auf dem Rücken seiner blauen Kleidung entdeckte ich ein großes, rotes, gemaltes Kreuz. Es vergingen keine 2 Minuten, als polternd so ein Aufseher die Wohnung betrat. „Ist hier jemand 'reingekommen“? fragte er mich. „Nicht, daß ich wüßte, nein“ antwortete ich. Er durchstiefelte die Zimmer, fand den Mann und jagte ihn mit Kolbenschlägen aus dem Haus. Es wäre ein französischer Jude gewesen, erfuhr ich später.
Die schwer an Asthma leidende Frau Horn, die über uns mit ihrem Mann und zwei Mädchen zur Miete wohnte, war in den Keller gegangen, um Kartoffeln zu holen. In der Kiste hatte sich ein Mensch versteckt. Ob die Frau vor Angst und Schrecken um Hilfe rief, oder diesen Gefangenen verraten hat, weiß ich nicht. Der Franzose flüchtete zu uns, für ihn der nächste Weg.
Ich sah viele Juden bei uns vorbeiziehen. Es waren junge Menschen und Kinder. Vater muß wohl im Garten gewesen sein, als sich ihm bittende Hände entgegenstreckten. Er kam in die Küche gelaufen und griff sich die vom Mittagessen übrig gebliebenen Salzkartoffeln. Es tat mir weh, Vater daran hindern zu müssen, zu helfen. „Ich würde es auch gern tun, Vater, aber die Gefahr denunziert zu werden, ist zu groß“. Mit Tränen in den Augen standen wir am Fenster, uns unserer Ohnmacht bewußt. Die junge Frau hat sich noch einige Male umgeschaut.
Nach und nach erst wurde bekannt, daß das diese Gefangenen aus dem Konzentrationslager Stutthof kamen, ca 60 km von uns entfernt. Den Ortsnamen kannte ich nur als Poststempel. Diese jungen Menschen waren erschöpft, aber lebten. Ich hoffe, sie haben überlebt.
Die ersten Flüchtlingstrecks aus Ostpreußen zogen mit ihren 'Panjewagen' durch unsere Werderstraße. Es war bitterkalt. Das Thermometer zeigte minus 28 Grad an. Ein Jahrhundertwetter.
Mitunter hielten einige Wagen an, und Hilfesuchende klopften an unsere Tür. Eine junge Mutter bat uns, ein Milchfläschchen für ihr Baby anwärmen zu dürfen, doch als sie es füttern wollte, war das Kind tot, vielleicht erfroren. Eine andere Mutter bat uns um Hilfe, weil ihr Pferd total erschöpft sei. Vater machte aus dem Schweinestall einen Pferdestall, indem er sämtliche Streben und andere im Wege stehenden Hölzer mit einer Axt zertrümmerte. Nun hatte das Pferd Platz genug, um sich zu erholen und zu fressen. Die Mutter hatte nicht gesehen, daß ihr neunjähriger Sohn, der das Pferd gelenkt hatte, erfrorene Hände hatte. Sie waren blauschwarz, als die Handschuhe ausgezogen wurden. Der Junge hat es nicht gespürt. Wir weinten mit den Müttern, helfen konnten wir nicht. Zu spät.
Diese Flüchtlinge, die ihr 'Hab und Gut' auf die mit Planen bespannten Pferdewagen aufgeladen hatten, trennten sich immer mehr von ihren Sachen. Im Straßengraben lagen zuhauf Nähmaschinen, Radios, Möbelstücke und viele lebensnotwendige Gegenstände. Die Pferde hatten keine Kraft mehr.
Den Fußboden unseres Wohnzimmers belegten wir mir Heu und Stroh, um wenigstens für eine Nacht den Menschen Schlaf und Ruhe zu bieten. Wir erlebten auch, daß sich die Jüngeren absetzten und alte Menschen - auch ihre Eltern - zurückließen. Dieses Nichtverstehen in den Augen der hilfsbedürftigen Leute erschütterte mich zutiefst. Helfen konnten wir nicht mehr, nur lindern. Die Gemeinde nahm sie in ihre Obhut.
Wir erfuhren, daß viele Ostpreußen den Weg über die Ostsee gewagt hatten. Obwohl das Eis in diesem Winter sehr dick gewesen sein muß, brach es an manchen Stellen unter der Last der schweren Trecks. Die See schluckte die Wagen, die Pferde, die Menschen.
Im Januar wurden zunächst die Mütter und Kinder aufgefordert, die Heimat zu verlassen. Das betraf auch meine Schwester Luzia und ihre kleine Tochter Margrit, die gerade 6 Monate alt war: „Komm doch mit“, bat sie mich, „ich habe Angst allein“. Ich stand unter Arbeitsvertrag, durfte mich meiner Pflicht nicht entziehen. Wir grübelten, diskutierten. „Die lassen mich doch nicht aufs Schiff,“
argumentierte ich. „Wenn du aber ein fremdes Kind an die Hand nimmst, klappt das bestimmt. Bei dem Durcheinander“, bat sie zu überlegen. Ich dachte viel nach und kam zu dem Ergebnis, dass meine Schwester mir mehr wert war, als meine Dienststelle. Nachts sollte uns ein Sonderzug nach Danzig bringen. Wir hatten uns bis zur Unförmigkeit dick angezogen, den Einheitskinderwagen mit den nötigsten Dingen vollgepackt. Tränenreich verließen wir unser Zuhause.
Nach ungefähr 200 Metern brach ein Rad vom Kinderwagen ab. Wir kehrten zurück. Wäre das nicht passiert, würden wir heute vermutlich nicht mehr leben. Das Passagierschiff ’Wilhelm Gustloff’ , mit dem wir fliehen sollten, wurde von einem Unterseeboot torpediert. Von 6.000 Flüchtlingen versanken annähernd 5.000 in den kalten Fluten der Ostsee.
Die Flüchtlingstrecks in den Straßen nahmen kein Ende, Mitte Februar, ich wollte gerade zum Dienst gehen, wurde die Wagenkolonne von Tieffliegern beschossen. Es ging alles drunter und drüber. Über Mikrofon erhielten jetzt alle eindringlich die Aufforderung, ihre Wohnungen zu verlassen. Zu einer bestimmten Zeit würden Sonderzüge eingesetzt. Meistens waren diese Informationen falsch. Sollten beruhigend wirken. Die Bahnsteige waren so überfüllt, dass keine Lücke mehr sichtbar war. Toiletten fehlten. Zusammengekauert hockten die Menschenmassen auf ihren Koffern oder Bündeln, warteten stundenlang. Das ’Rote Kreuz’ war machtlos gegen den Ansturm Tausender Flüchtlinge.
- Was nützen ein paar Tropfen Regen einer verdorrten Erde. -
Praust als Umschlagsbahnhof war zum Sammelpunkt geworden. Lief ein Zug wirklich mal ein, drängten die Menschen in die kälte- und windgeschützten Waggons. So manch eine Familie wurde dabei getrennt. Es ist so schwer das Elend, was sich damals dort abspielte, zu beschreiben. Am schlimmsten trafen mich die Mütter- und Kinderschicksale. In Danzig sollten Mütter ihre Kleinen für eine kurze Zeit in die Obhut des DRK geben, damit diese wenigstens eine warme Mahlzeit erhielten. Die Mütter sollten schon mal nach Praust vorfahren, die Kinder würden nachgeschickt. Im Postamt bestürmten uns die Frauen, telefonisch nach dem Verbleib der Kinder zu forschen. Zwei Tage waren vergangen. Was war passiert?
Diese aus dem Gedächtnis hervorgerufenen und geschilderten Erlebnisse sind aus einer Vielzahl herausgegriffen. Es würde den Rahmen sprengen, sie niederzuschreiben. Hinter jedem versteinerten Gesicht, hinter jedem Auge verbarg sich ein trauriges Schicksal. Sie hatten alles hinter sich gelassen und ihr Lachen verloren.
Nach dem Krieg wurde der Suchdienst des DRK eingerichtet: Eltern suchen ihre Kinder, Kinder suchen ihre Eltern. 50 Jahre danach gab es noch Anfragen. Dabei muß erwähnt werden, dass viele Kleinstkinder ihren Namen nicht kannten. Auch waren Mütter sowie Kinder während der Flucht verstorben.
Einwohner von Praust, die wie wir noch ausgeharrt hatten, packten ihre Koffer. Viele Wertgegenstände wurden vergraben, denn fast alle glaubten fest daran, bald wieder nachhause zurückkehren zu können. Vom Hof aus hörte ich mal 5 Schüsse fallen. Ich schaute über den Zaun und sah einige Soldaten im Garten eines Hauses sehen. Ich erfuhr später, Plünderer wären dort standrechtlich erschossen worden. Sie sollten aus dem Keller Konservendosen und Marmelade gestohlen haben.
Auch wir räumten Geschirr in Kisten, Mutters tolle Handarbeiten in Säcke. Wir transportierten alles auf den Dachboden. Vater grub im Hühnerauslauf eine tiefe Grube, darin sollten Lebensmittel in Form von Einmachgläsern, Konservendosen usw. deponiert werden. Für Walter! Er sollte etwas zu essen vorfinden, falls er heimkäme. Vaters gute Gedanken. Vater wollte auch nicht mit uns kommen. Einmal sagte er zu mir: “Russen sind auch Menschen, die tun uns nichts“. Jetzt jedoch äußerte er sich anders: „Entweder kommen wir durch die Russen um oder auf der Flucht.“ Er resignierte, war mutlos geworden.
Am 28. Februar 1945 verließ ich auf Dienstbefehl mein Elternhaus. Mutter, meine drei Schwestern und die kleine Margrit folgten erst am 10. März. Mit der Familie meines ehemaligen Lehrers Sorau, sie wohnten uns gegenüber bei Klammer, waren sie bis nach Neufahrwasser gefahren. Es war purer Zufall, dass der Kapitän eines Flugsicherungsbootes sie aufforderte: „Kommen Sie hier rauf.“ Sie blieben die einzigen Passagiere, die Besatzung zählte neun Mann. Von Stralsund aus fuhren sie nach Hamburg und weiter nach Brande-Hörnerkirchen.
Magda Bils Trojahn wurde am 15. 09. 1922 in Danzig-Praust geboren
und verstarb am 07.07.2005 in Norderstedt.