Liebe Danziger Freunde des Forums,
eigentlich wollte ich diese Schilderung des Untergangs 1945 schon im März versandt haben. Aber nun kommt es einen
Monat später. Es folgen weitere Fortsetzungen.
Zwischen den beiden Häusern in der Pfefferstadt Nr. 53 Hevelius-Gaststätte und Nr. 54 Wohnhaus befand sich ein langer Hausflur.
Dieser hatte Treppenhauslänge. Die Treppe zum Obergeschoß
setzte an der hinteren Hausmittelwand an. Am Ende des Hausflures
befand sich ein Einzel-WC. Die zum Obergeschoß nach links
antretende Treppe war am Antritt ein Viertel gewendelt.
Vom Hausflur konnte man außerdem in die Gaststätte im
Erdgeschoß eintreten.
Der Gaststätten-Haupteingang war direkt von der Pfefferstadt her.
Für uns als Kinder war dieses anfangs natürlich ein großer
Bewegungsraum, den wir gerne benutzten. Bei Beschuß oder
Tieffliegerattacken mußten wir natürlich immer wieder in das erste
Kellergeschoß.
Der Beschuß und die Angriffe aus der Luft
nahmen ab Mitte März 1945 heftig zu.
Ich war zur Toilette im Hausflur aufgestiegen und hatte mein
Geschäft erledigt und bin ins Kellergeschoß zurückgekommen.
Ich war gerade bis zur unteren Treppenstufe gebummelt.
Da gab es eine heftige Explosion. Ein Granateinschlag auf der
Hauptstraße Pfefferstadt, direkt vor der Haustür zum Flur, war
die Ursache. Neugierig stieg ich wieder die Treppe hinauf, um
nachzusehen was passiert sei. Ich war noch nicht ganz zur Kellertreppe hinauf gekommen, hörte ich schon Geschrei und Weinen.
Die obere Kellertür zum Hausflur war aus den Angeln gedrückt.
Mir kam ein blutüberströmter Soldat entgegen, der nach mir zur
Toilette gegangen war. Seine Uniform war teilweise zerfetzt.
Er stöhnte vor Schmerz. Ich war entsetzt, das hätte mich treffen
können, und hockte auf den Treppenstufen hin. Von Unten kam
Hilfe um den Verletzten in den Keller hinab zu holen. Da ich ohne
Schaden war ließ man mich in Ruhe.
Dann hatte ich mich soweit erholt und stieg bis zum Flur auf.
Es war ja auch nicht der Erste Beschuß den ich erlebt hatte.
Den Schaden wollte ich genauer sehen.
Die Haustür zur Straße war völlig zerfetzt. Das Mauerwerk in den
Türleibungen auch. Die Trümmer der großen Haustür und des
Mauerwerkes lagen, bis zur Kellerabgangstür hineingeschleudert.
Die Toilettentür war eingedrückt und zersplittert. Jetzt wurde mir
klar, was es für mich für ein Glück war, der da gerade die Toilette
verlassen hatte. Inzwischen wurde ich auch schon von meiner
Mutter gerufen. Sie suchte mich und war glücklich mich unverletzt
in den Keller ziehen zu können. Das war mein letzter Ausflug,
vor der endgültigen Stadtzerstörung Danzigs, aus dem Keller
ans Tageslicht. Bis auf die Straße sind wir Kinder dann nicht
mehr gelassen worden.
Nun begann das Inferno.
Die Einschläge der Geschosse und
Bomben nahmen zu. Die Anzahl der zuströmenden Menschen
von der Straße wuchs. Immer mehr uns Unbekannte flohen zu
uns in den Keller. Frauen Kinder und alte Leute, weinend,
jammernd, nach ihren Angehörigen suchend, um Wasser bittend,
teilweise verletzt und um Hilfe flehend. Jetzt entstand unübersichtliche
Enge, Furcht und Luftnot. Mit der "Wohnlichkeit" im Keller war es vorbei.
Der Keller wurde zum Durchgangsraum. Gepäckstücke blieben liegen,
Unrat wurde zur Plage und es stank nach Menschennot.
Teilweise flohen die Menschen auch in das zweite Kelleruntergeschoß,
die eigentlichen Luftschutzräume. Zwischendurch immer wieder die
Anordnungs-Komandos der Luftschutzwarte, die mit der schon sehr
unruhigen Menschenmenge kaum noch fertig wurden.
Von der Druckerei Schnelle waren einige französische Kriegsgefangene,
vielleicht sechs oder sieben heruntergekommen. Diese durften nicht
in die Luftschutzräume tiefer steigen und saßen an einem Tisch. Sie
waren sehr um die Kinder bemüht und beschäftigten sie mit
Zeichenspielen. Mich hatte einer dieser Männer auf seinen Schoß
gesetzt und machte mit mir Profilzeichnungen von Köpfen.
In späteren
Jahren und noch heute mit meinen Enkeln, komme ich in Erinnerung
an Ihn, immer wieder hierauf zurück.
Die Erschütterungen der Bombardierungen wurden sehr bedrohlich,
Die gemauerten Kellerdecken erzitterten unter dem Beschuss.
Von den Decken rieselte der trockene Mörtel als Sand und Staub auf uns
herab. Nun flohen auch wir, unsere Mutter mit uns Kindern und ihre
Schwester, Tante Minna, in den Tiefbunker in die zweite Tiefetage.
Es ging eine breitere Betontreppe hinab.
Von den Franzosen haben wir nichts mehr gesehen, dieses hat mich
immer beschäftigt. Wo sind sie geblieben?
Auf der Abgangstreppe und im unteren Luftschutzraum entstand
starkes Gedränge. Von unserem Gepäck und Bettzeug hatten wir
nichts mitnehmen können. Es ging alles sehr hastig. Die Sorge um
die Pistole und die Munition war ich auch los, sie wurden ein
gerechtes Opfer des Unterganges. - Kinder weinten und Menschen
riefen nach ihren Nächsten, bis sich alle etwas verteilt hatten.
Vom Haupteingang Pfefferstadt nahm ebenfalls der Zustrom,
der vor dem Beschuß flüchtenden Menschen zu.
Viele hatten Verwundungen und mußten versorgt werden.
Es war ein ständiges Gedränge von einem Bunkergewölbe ins
nächste. Und immer wieder versuchten die Luftschutzleute die
durcheinander flutenden Leute zu ordnen.
Nach einiger Zeit war mein Vater in Eisenbahneruniform, von seinem
Einsatzort ODZ (Bahnbetriebswerk Olivaer Tor Danzig), zu uns in
den Bunker gekommen. Unsere Eltern hatten sich ja die Kontakthaltung genau so gedacht. Später hat uns Papa erzählt, daß er mit
dem Befehlszug bis auf die Halbinsel Hela gefahren sei. Danach
mußte er Pendelverkehr auf der Halbinsel machen. Militärgut,
Flüchtlinge und Versorgungsgüter fahren.
Die Lok wurde von den Pionieren gesprengt und unser Vater,
ist mit anderen Eisenbahnern, per Fischerboot nach Danzig
zurückgebracht worden. Er hat sich natürlich dazu auch gemeldet.
Denn wie schon gesagt war der Kontakt unserer Eltern vereinbart.
Das Ausharren hatte sich nun schon gelohnt. Immer wieder mußte
er zum ODZ und wurde dort als Verteidigungsbesatzung eingeteilt.
Kurz vor dem Einmarsch der Roten Armee waren noch drei
Eisenbahner dort. Im allgemeinen Rückzug der deutschen Wehrmacht,
verständigten sie sich darauf, ihre Familien aufzusuchen.
Mein Vater erzählte mir später, daß er stolz darauf gewesen ist,
im Krieg nie auf einen Menschen geschossen zu haben.
In den Tagen zwischen dem 20. und 28. März 1945 sind wir nicht
mehr aus dem Tiefbunker herausgekommen. Die Verhältnisse
im Bunker wurden immer katastrophaler.
Der Hauptausgang zur Pfefferstadt, die Treppenanlage neben der
Druckerei Schnelle, wurde durch einen Bombentreffer verschüttet.
Die Leute im Eingangsbereich sind umgekommen. Es gab eine
gewaltige Erschütterung bei der Explosion. Nur durch den Verschluß
der stählernen Luftschutztüren der einzelnen Bunkergewölbeabschnitte,
wurde der Luftdruck gemindert. Dieser Einschlag löste erneut eine Panik
aus. Alle drängten zum noch intakten Ausgang Baumgartsche Gasse.
Die Menschen verloren jedes geordnete Verhalten. Es war auch keiner
mehr da, der kommandierte. Schreien, weinen, stürzen, einer über den
anderen steigend, war die Folge. Vor unseren Augen riß sich, ein in
brauner Naziuniform gekleideter Mann, diese vom Leibe und drängelte
in Unterwäsche davon. In den über uns liegenden Häusern brannte es
überall. Frischluft über die Handpumpen herein zu drücken war unmöglich
geworden. Es kam nur noch beißender Qualm. Im Gewölbe stand schon
rauchhaltige Luft.
Auch wir fünf Personen, die Eltern und wir drei Kinder
wurden im allgemeinen Gedränge bis zur Betonaufgangstreppe zur
Baumgartschen Gasse geschoben. Tante Minna hatten wir verloren.
Im Treppenbereich standen Wasserfässer, in die die Flüchtenden Decken
eintauchten, um im Schutz der Nässe aus dem Ausgang zu entkommen.
Draußen tobte Beschuß und Feuersbrunst.
Unser Vater zog unser Familienknäuel unter die Betonaufgangstreppe.
Wir hatten uns, Vater- Mutter- und ich, an den Händen verklammert und
unsere beiden achtjährigen Zwillinge Ursel und Ruth, in die Mitte gedrängt.
Unter der geneigten Treppenplatte lagen auch schon Verletzte. Sie
stöhnten und waren auch teilweise apathisch. Der Strom der flüchtenden
Menschen dauerte doch sehr lange. Unter der Treppe hatten wir wenigstens
Ruhe vor dem entsetzlichen Druck der angstvoll in Panik flüchtenden
Menschen. Am Ausgang gab es Verletzte durch Feuer, Beschuß und
einstürzende Mauern. Diese wurden wieder in den Bunker herab gebracht.
Die in Panik geratenen Flüchtlinge schoben sich gegenseitig ins Feuer.
Die zwischen den einzelnen Bunkerabschnitten befindlichen Stahltüren
wurden nur geöffnet, wenn sich noch Jemand bis zur Tür schleppen konnte
und klopfte. Nach längerer Zeit, bestimmt mehr als 24 Stunden, beruhigte
sich die wilde Flucht der Bunkerinsassen. Es war, wie unser Vater später
bestätigte, ein Entkommen ohne Gefahr zu verbrennen nicht mehr möglich.
Draußen lagen bergeweis die verbrannten Leichen, was wir beim späteren
Verlassen auch gesehen haben. Mein Vater hat die restlich im Bunker
Verbliebenen unter 100 Personen eingeschätzt.
Im Bunker waren auf dem Betonboden Lattenroste ausgelegt.
Von den Wasserfässern war der Untergrund durchnäßt und verschmutzt.
Es stank nach Urin und Kot. Es gab nur noch Kübel als Toilette, infolge der
versperrten Möglichkeit durch das Inferno, außerhalb des
LSR (Luftschutzraum), war eine Entsorgung nur in die rückwärtigen
Bunkerabschnitte möglich. Dorthin wo auch die Leichen geschafft wurden.
Inzwischen formierte sich unter den Insassen des LSR eine neue Ordnung.
Einige Erwachsene organisierten eine Hilfsgruppe, die für Versorgung und
Schutz so weit als möglich arbeitete.
Wir hatten an einer Seite einen Platz auf dem Boden gefunden.
Nur was wir auf dem Leib trugen, war uns bei der Panik noch erhalten
geblieben. Unter totaler Angst sind wir vor Erschöpfung und Ermüdung
immer wieder eingeschlafen. Wach wurden wir auch immer wieder, durch
neue Not, die um uns herum stattfand und größere Detonationen , in der
um uns sterbenden Stadt Danzig.
In einer Ecke hatte man einen Vorhang mit Bettlaken erstellt. Die Hebamme
Frau Liß hatte dort eine Entbindende zu betreuen. Stöhnen, schreien und
Geschäftigkeit weckten immer wieder Aufmerksamkeit. Schließlich gab es
Babygeschrei.
Ich war ja damals schon aufgeklärt, durch das Gesundheitsbuch meiner
Mutter, das ich zu Hause immer heimlich abschnittsweise gelesen hatte.
Vor allem der Teil der geschlechtlichen Aufklärung und Geburtendarstellung mit Klappbildern, hatte mein Wissen um diese Dinge erweitert.
Schon in Praust hatte ich Aufsehen erregt, als unsere Nachbarin Frau
Prohl 1943 schwanger war und ich den Kindern der Nachbarschaft
Aufklärung gab: Frau Prohl bekommt ein Kind. Prompt kam die
Beschwerde zu meiner Mutter. Keiner konnte sich dieses erklären und
ich schwieg. Es gab ein Mädchen Gudrun Prohl etwa im Jahre 1944.
Im Bunkergewölbe hatte sich inzwischen im oberen Luftraum eine Rauchschicht gebildet. Rauch und Gestank führten zur Atemnot. Viele Kleinkinder
sind gestorben. Auch das neugeborene Bunkerkind konnte nicht überleben.
Die Mutter hatte keine Milch. Irgend jemand hatte noch eine Dose
Kondensmilch für die Mutter, aber das Baby war nicht zu retten.
Wir hatten nichts mehr zum Trinken. Von den schwitzenden Betonwänden
haben wir die Feuchtigkeit geleckt. Auch Lebensmittel und Brot waren
nicht mehr vorhanden.
Licht gab es nur spärlich, es war ein gespenstischer grauer Dunst.
Immer wieder waren Erschütterungen vom Beschuß und von den
einstürzenden Wohnhäusern zu spüren. In der benachbarten
Volksschule Baumgartsche Gasse sollen Panzerfäuste gelagert worden
sein, die in der Feuersbrunst explodierten.
Die inzwischen arbeitende Hilfsgruppe hatte in den weiter entfernt
liegenden Gewölbe-LSR nach Lebensmitteln gesucht.
Es kamen Rotkohlkonserven zu uns und so bekam noch jeder
etwas zugeteilt. Die Leichen wurden in die nicht besetzten
LSR-Bereiche verbracht. Am Ausgang in der Baumgartschen
Gasse mußte ständig geräumt werden. Die immer wieder
herunterstürzenden Trümmer wurden von den Männern beseitigt.
Zu diesem Zweck hatte man einen Rohrhandlauf von der Wand
demontiert und ihn als lange Stange zum Stoßen benutzt.
Wie bei dem Märchen die sieben Schwaben, die gemeinsam
den Spies führten. Das draußen wütende Feuer, herumfliegende
brennende Balken und große Hitze, waren eine bedrohliche
Lebensgefahr. Immer wieder mußten sie sich nach Innen
zurückziehen. Die Männer schützten sich mit feuchten Tüchern
und wir hatten kein Wasser mehr. Es wurde gezielt Urin gesammelt,
damit die tapfer kämpfenden etwas Schutz hatten und ihre Tücher
damit nässen konnten. Auch wir unten in der Tiefe von mindestens
5,00 m, in den LSR mußten uns gegen Rauch schützen, mit in Urin
getränkten Lappen. Von den Luftschutzleuten oder Parteigängern
war nichts mehr zu spüren. Ein Paar gab sich als Kommunisten aus.
Sie waren mit halblangen Lederjacken bekleidet. Dieses ist mir
deshalb in Erinnerung geblieben, weil sie diese zuerst ausziehen
mußten, als die ersten Russen im Bunker erschienen.
Es war der 28. März 1945. Die Russen kommen! So hieß es damals.
Es waren die Sowjetsoldaten oder auch Rotarmisten, in der offiziellen
Sprache, die ich weiter benutzen will. Die Sowjetsoldaten waren im
Gesicht und an ihren Wattejacken schwarz verschmiert. Sie rochen
nach Alkohol. Ihr erstes Interesse war deutsche Soldaten zu suchen.
Aber da waren nur noch einige Schwerverwundete. Zuerst nahmen
sie alle Männer heraus von 14 - 70 Jahren, die entsprechend kräftig
eingeschätzt wurden. Sie haben dann Frauen und Kinder heraus
gewiesen. Dawei! Dawei! Das waren die ersten russischen Worte.
Wir wurden aus dem Bunker gedrängt. Oben blendete uns das
Tageslicht, das wir 10 Tage nicht gesehen hatten. Der Bunkerausgang
war nur noch ein Schuttloch von weniger als 2 m Durchmesser.
Die Gasse war verschüttet. Seitlich auf einer betonähnlichen Fläche
lagen verbrannte, schwarz verkohlte Leichen. Es sah teilweise aus
wie ein Haufen Kohle, mit ein paar Knochenresten.
Von den draußen mit Maschinenpistolen stehenden Sowjetsoldaten,
wurden wir in Richtung Paradiesgasse mit Dawei Dawei gewiesen.
Die Trümmer waren zum größten Teil schon zusammen gefallen.
Rauch lag über der Stadt. Von Straßen war nichts mehr vorhanden.
Es tobte noch der Kampf und vereinzelt brannten Trümmerreste.
Die deutsche Front befand sich zu diesem Zeitpunkt an der Mottlau.
Wir taumelten über die rauchenden Trümmer im krachenden Beschuß.
Die Sowjetsoldaten hatten auch Flammenwerfer. Sie trugen diese auf
dem Rücken und gaben in Richtung Mottlau, aus der geschossen wurde,
Feuerstöße ab. Es war furchterregend. Überall lagen tote deutsche
Soldaten und auch Zivilisten. Deutsche Gefangene wurden von
Sowjetsoldaten abgeführt. Einige von ihnen waren verbunden.
Wie wir, unsere Mutter mit uns drei Kindern, in diesem Beschuss
durch Rauch und Flammen über die Trümmer gekommen sind
bleibt unbegreiflich. Das Schlimmste war unser Durst. Als wir fast
an der Alten Mühle waren, entdeckte ich Sowjetische Soldaten,
die in ein offenes Trümmerloch einstiegen und mit Flaschen im Arm
wieder herauskamen. Ohne mich weiter vorzusehen stieg ich hinterher.
Es war ein halb offenes Kellergewölbe in dem zerborstene Flaschen
herumlagen. In noch einigermaßen erhaltenen Gefachen lagen ganze
Weinflaschen. Ich nahm mir drei davon und wollte heraus.
Da erwischte mich ein Sowjetsoldat, nahm mir eine ab, zerschlug
den Flaschenhals am Mauerwerk und probierte mit einem Schluck
den Wein. Er fluchte etwas und warf die angeschlagene Flasche fort.
Oh je war das ein Verlust, so nahe am durststillenden Getränk zu sein.
Wieder stieg ich zurück und konnte mit zwei weiteren Flaschen im Arm
meine Familie einholen, wir versteckten unseren Schatz unter unserer
verdreckten Kleidung. Unsere Mutter brachte es irgend wie fertig eine
Flasche zu öffnen und wir vier hatten erst einmal etwas Flüssiges.
Wobei uns allerdings der Alkohol zu schaffen machte.
Inzwischen waren wir vor der Großen Mühle in Richtung Töpfergasse
abgebogen und mußten uns in einer ausgebrannte Schule sammeln.
Es ging ein paar Stufen zum Souterrain herunter.
Die gemauerten Decken waren erhalten. Im Eingangsbereich waren
in einer Ecke die Gefallenen der Sieger gestapelt, aufgeschichtet
über Kreuz wie Holzscheite. Der Boden war mit Blut verschmutzt.
Über diesen Leichenberg war ein Plane übergehangen, aber sie
reichte nicht bis zum Boden und so waren Köpfe und Beine zu sehen,
teilweise zerschmettert. Jetzt war klar warum sowjetische Gefallene
nicht im Trümmerfeld herumlagen.
Nach dem Zusammenbruch der
Kommunistischen Ordnungen in den 90ziger Jahren, ist bekannt
geworden, daß die oberste sowjetische Führung einen Befehl erlassen
hatte, der veranlaßte, daß Verluste der ruhmreichen Sowjetarmee
nicht sichtbar sein und fotografiert werden durften.
Wir waren so apathisch, daß wir nicht mehr auf solche schrecklichen
Anblicke mit Übelkeit reagieren konnten.
Im Untergeschoß kauerten schon mehre Frauen mit Ihren Kindern
und alte Leute. Einige weinten schon, denn hier wurden alle nach
Wertsachen gefilzt. Die Soldaten suchten nach Schmuck und Uhren.
Manche der Plünderer hatten mehrere Uhren am Arm. Unsere Mutter
hatte nur noch ihren goldenen Ehering am Finger und ein sowjetischer
Soldat fummelte ihr schon mit einer Pistole vor der Nase herum.
Sie bekam den Ring nicht sofort vom Finger. Wir Kinder hatten große
Angst um unsere Mutti und haben geschrien. Nachdem sie ihren Finger
noch einmal mit Speichel genäßt hatte, bekam der Soldat endlich seine
Beute und ließ ab von uns. Nachdem nun alle dort Zusammengetriebenen
ausgiebig durchsucht waren, hieß es wieder Dawei, Dawei, ab in Richtung
Hauptbahnhof.
Wir stolperten wieder müde und hungrig über das Trümmerfeld, an
vielen Leichen vorbei. Vor dem Hauptbahnhof war der große
Sammelplatz für Zivilpersonen. Die gefangenen deutschen Männer
in Zivil, standen in Blöcken zusammengestellt und bewacht. Alles
schrie durcheinander, denn Frauen und Kinder suchten nach ihren
Männern. Auch wir entdeckten unseren Vater, konnten aber nicht
näher an ihn herankommen. Die Wachen trieben uns zurück.
In der Ansammlung vor dem Bahnhof fanden wir auch Tante
Minna wieder. Sie war noch aus dem Bunker entkommen,
wurde aber verschüttet und ist durch deutsche Soldaten
geborgen worden. So hat sie überlebt und hat den LSR unter
dem Bahnsteig erreicht. Sie soll eine Schreckrose gehabt haben; -
was das auch immer war?
Zum Glück fanden wir auch noch
Oma & Opa Völz, die ebenfalls im LSR unter dem Bahnsteig
sicher das Inferno gesund überstanden haben.
Es muß der späte Vormittag gewesen sein, als die Gefangenenkolonnen
in südlicher Richtung abgeführt wurden. Wir haben unseren Vater aus
den Augen verloren und ihn erst 3 Monate später wieder gefunden.
Alle anderen Frauen, Kinder und alte Leute, sind in nördlicher Richtung
Olivaer Tor durch Posten mit Dawei, Dawei und Waffenbedrohung
abgedrängt worden. Es fielen auch Schüsse.
Aus der nun wachsenden Entfernung war das Grollen des Gefechtslärmes
ständig zu hören. So zog eine lange Menschenkolonne in Richtung
Langfuhr, aus der zertrümmerten & rauchenden Stadt Danzig aus.
Wir mußten am linken Straßenrand bleiben. Es ging über die große Allee.
Die aufgehängten deutschen Marinesoldaten, die mein Vater noch
gesehen hatte, hingen nicht mehr an den Alleebäumen.
Es waren die als Fahnenflüchtige von der deutschen Militärjustiz
Hingerichteten. In der Straßenmitte zogen die nachrückenden
sowjetischen Truppen mit Panzern, Lastwagen mit angehängten
Geschützen, Granatwerfern, aufgesattelten Stalinorgeln und dazu
am Alleerand mit Pferden bespannte Wagen, mit aufsitzenden
Soldaten. Wahrscheinlich der Nachschubtroß.
Die Straßen waren im Bereich der ziehenden deutschen Zivilbevölkerung, in Abschnitten mit Schlagbäumen als Straßensperren
versehen. Hier wurden alle wieder kontrolliert. Ein neues Wort drang
an unsere Ohren : idi zuda, komm her!
Dann kam die Aufforderung nach dem Dokument. Unsere Mutter
hatte wie durch ein Wunder noch eine Reichskleiderkarte mit Pleitegeier,
Adler mit Hakenkreuz, in ihrer Manteltasche. Wir wurden von einer der
Soldatinnen kontrolliert und registriert und über den Adler wurde nun
ein Stempel mit Hammer & Sichel aufgedrückt und mit Schriftzeichen
versehen, die wir noch nicht kannten. Ich hatte nach der Räumung
des Luftschutzbunkers in der Baumgartschen Gasse keine Kopfbedeckung mehr. Da es kalt war hob ich eine blaue Eisenbahnerfeldmütze auf, die ein schwarz gelacktes Schild hatte. Mit dieser
Kopfbedeckung fiel ich auf und wurde gefragt :
Du Gitler ? Hitler konnten sie nicht aussprechen. Nein stammelte ich
vor Angst und warf die Mütze weg. Später habe ich dann irgend einen
alten Wollsocken als Kopfbedeckung gefunden.
Auch auf den Kreuzungen der Straßen standen weibliche Posten mit
umgehängter Maschinenpistole. Sie regelten den Verkehr der vielen
Militärkolonnen mit roten und grünen Handfähnchen, die als
Achtungszeichen senkrecht in die Höhe hielten und dann in die Richtung
wiesen, zu der die Durchfahrten frei gegeben wurden.
Am nächsten Kontrollpunkt hieß es wieder idi zuda Dokument. Nun reichte
das Vorzeigen der abgestempelten Kleiderkarte und Dawei ging es weiter
in nördlicher Richtung.
Wir gingen immer an den Militärkolonnen entlang, mit einmal flog uns
ein Komisbrot zu. Die auf einem Pferdefuhrwerk sitzenden Soldaten
hatten es den beiden Schwestern zugedacht, was sie mit Gestik und
malinki andeuteten. Nun konnten wir endlich etwas essen und dazu
noch einen Schluck von dem Wein trinken. Wir waren ganz schön
benebelt und sehr müde.
Unsere Mutter kannte sich in Langfuhr aus.
Vor dem Bau unseres
Einfamilienwohnhauses in Praust, haben unsere Eltern ab 1929
dort im Bardewickweg gewohnt, wo ich dann am 01.05.1932
geboren wurde. Sie führte uns von der Großen Allee fort in
Richtung Flugplatz. Auf Nebenstraßen, die auch mit Sperren
versehen waren, an denen wir kontrolliert wurden, kamen wir
spät Nachmittags nach Glettkau an den Strand in die Dünen.
Hinter einem Bretterzaun, fanden wir eine Mulde, in der wir etwas
ausruhen konnten und einschliefen.
In meiner nächsten eMail berichte ich weiter, von der hierauf folgenden schrecklichen Nacht und unseren Zwangsaufenthalt in Oliva.