Es war im Spätherbst bis Winter 1943-44.
Wir haben als Kinder, ich war damals 11 1/2 Jahre alt, gerne mit den Baustellen-Loren des Erweiterungsbauvorhabens des Danzig - Prauster Militärflugplatzes gespielt.
Wir drei "Bengels", zwei Nachbarjungen und ich, Erwin Völz, waren auf Erkundungsgang im Flugplatzsperrgebiet. Dieses war nur durch aufgestellte Warntafeln an den vorbeiführenden Wegen und Straßen gekennzeichnet. " Betreten verboten ! Militärisches Sperrgebiet usw."
Die Erwachsenen hielten sich an dieses Verbot, denn wer wollte schon mit der Schußwaffe Bekanntschaft machen oder verhaftet werden. Wir "Bengels" waren auf der Suche nach neuen Feldbahnanlagen. Wenn möglich mit einer Gefällestrecke, schön lang auslaufend, damit der Spaß sich lohnt.
Die Luftwaffe ließ vom eigentlichen Flugplatzgelände,zu den Außensiedlungen, Rollbahnen bauen auf denen die Kampfflugzeuge in getarnte Unterstände fahren konnten. Es waren autobahnähnliche Betonstraßen. Die Trasse war ausgehoben und die Muttererde seitlich entlang in Erdmieten aufgeschichtet. Im Trassenbereich wurde Kies aufgefüllt und von Hand planiert und mit Zement vermörtelt. Der Verteilungstransport erfolgte aus Kiesgruben, die in der Umgebung aufgeschlossen wurden.
Transportmittel waren Bauzüge, 600 mm Schmalspurbahn, gezogen von Dampflokomotiven und auch Dieselloks. Beladen wurde von Gefangenen von Hand. Die Kipp- Loren wurden am Verwendungsort auf der Trasse von Gefangenen wieder gekippt und das Kiesmaterial planiert. Auf dem planierten Kies hatte man in bestimmten Abständen Zementsäcke ausgelegt. Diese wurden mit Schaufeln aufgeschlagen und mit Harken in die Kiesfläche eingearbeitet. Die Feuchtigkeit des Untergrundes sorgte für einen vorverfestigten Baugrund. Wir haben alles beobachtet und fanden natürlich immer etwas neues Interessantes.
An einem trockenen aber kalten Tage waren wir wieder unterwegs. Auf der Baustelle wurde gearbeitet. Es war eine größere Kolonne Gefangener dort auf der Trasse eingesetzt. Natürlich durften wir uns nicht sehen lassen und so schlichen wir entlang der Erdmieten vorwärts. Der Boden war schon gefroren und so konnten wir auch liegend vom Erdhaufen unsere Beobachtungen gut vornehmen.
Wir hatten ja alles beim Jungvolk gelernt. Robben, anschleichen, tarnen, Deckung nehmen, uns ganz flach an die Erde zu drücken und mit wenig Geräuschen an den gewünschten Beobachtungspunkt zu kommen. So schafften wir es unmittelbar hinter der Arbeitskolonne, über die Mietenkrone zu spähen. Gerade vor uns am Rande der Böschung sahen wir kahlgeschorene Gefangene. So nahe waren wir noch nie an so einen Arbeitsbereich der Kolonnen herangekommen.
In einiger Entfernung sahen wir an mehreren Seiten Wachposten stehen.
Auch zwei Schäferhunde entdeckten wir, dievon den Posten an Leinen gehalten wurden. Man hatte uns noch nicht entdeckt.
Der vor unseren Augen arbeitende Teil der Kolonne machte auf uns einen erschreckenden Eindruck. Es waren ausgehungerte, abgemagerte Menschen.
Alles sah so aschgrau und träge aus. Die Kleidung war gestreift und sehr zerschlissen und geflickt. Auf der Seite in Brusthöhe sah man gelbe Sternzeichen.
Als sich die Gefangen nach den Zementsäcken bückten um sie auszuschütten, entdeckten wir wie sich einige Gefangene zusammen stellten. Zwei machten ihre Kleidung auf und steckten sich Papier der Zementsäcke unter, auf die nackte Haut. Sicherlich als Wind- und Wärmeschutz.
Nun erst entdeckten wir, daß es sich hier um Frauen handelte. Ihre schmalen, wie Hautlappen herunter hängenden Brüste, sahen wir, als wir vom oberen Böschungsrand zusahen.
Es ging alles sehr schnell. Auf den Anblick dieser ausgemergelten Menschen waren wir nicht vorbereitet.
Wir duckten uns, denn die Hunde schlugen an. Warscheinlich hatten uns die in der Nähe arbeitenden Frauen viel früher bemerkt und so waren wir für sie eine Tarnung um die Papiersäcke für ihren persönlichen Schutz zu entwenden.
Erschrocken ließen wir nun alle Vorsicht fallen und rannten davon. Die Wachposten schrien hinter uns her, "macht daß ihr nach Hause kommt und wenn wir euch erwischen werden, gibt es Prügel und eine Meldung."
Ausser Atem kam ich bei meiner Mutter an. Natürlich war sie ersteinmal über meinen verschmutzten Zustand entsetzt. Erst am Abend konnte ich ihr dann das Erlebte erzählen.
Meine Mutter hatte schon davon gehört, aber niemand hatte bisher diese Gefangenen aus nächster Nähe gesehen.
Erst 40 Jahre später auf einem Heimattreffen der Prauster in Plön in Schleswig-Holstein habe ich von meiner Schulkameradin Edeltraud Lisius erfahren, daß auch Sie von diesen Frauenkolonnen wußte. Ihre Eltern hatten im Bereich der vorher erwähnten Rollbahnbaustellen Äcker, die sie als Landwirte bestellten. Wenn diese ausgegehungerten Gefangenen in der Nähe waren, haben sie sich immer Feldfrüchte gezogen. Der Bauer Lisius hat dieses geduldet und keine Anzeige gemacht.
Am Flugplatzgelände an der Chausse nach Rostau, in der Nähe zum Gut Kochstedt, gab es ein paar mit hohem Stacheldraht eingezäunte Baracken. Diese waren die Unterkünfte für die Gefangenen.
Bei meinem ersten Besuch nach dem Kriege,in der Geburtsheimat Danzig, traf ich einen Herrn aus Zipplau, südlich des Flugplatzes gelegen. Er erzählte mir, die Lagerbaracke habe beim Gut Kochstett gestanden. Eine Unterstellhalle für Flugzeuge sei am Rande der Ortschaft Zipplau schon damals fertiggestellt gewesen. Diese wurde im März 1945, beim Heranrücken der sowjetischen Truppen, von der deutschen Wehrmacht gesprengt.
Solche Baracken gab es auch an den verschiedenen Stellen auf dem Gelände der Prauster Zuckerfabrick. Dort wurden Kriegsgefangene als Arbeitskräfte eingesperrt.
Getrennt wurde nach Engländern, die adrett und sauber gekleidet schon mal zum Fußballspielen auf den Sportplatz am Praustfelder Weg marschierten. Verdreckter sahen schon die russischen Gefangenen aus, die ich als Kolonne mal über den Bahnübergang ziehen sah. Schnell bückten sich einige, um aus den Rillen der Schienen Zigarettenkippen aufzuheben. So war während des Krieges die Anwesenheit von ausländischen Gefangenen kein ungewöhnliches Bild.
Von meinen Eltern wußte ich, daß sie aufgrund ihrer ablehnenden Haltung zur NSDAP und ihren Gliederungen, auch andere Informationsquellen suchten. In unserem Hause verkehrten keine Nazis.
Ich durfte nach meinem Jungvoldienst im Hause nicht mit Braunhemd herumlaufen. Dieses hatte ich sofort auszuziehen.
Zu seinem Vater, meinem Großvater, hatte mein Papa in politischer Hinsicht ein etwas gespanntes Verhältnis.
Der Großvater Franz Völz hatte an seiner Haustür, unmittelbar unter dem Drehklingelknopf ein Emaileschlild angeschraubt. Dort war die Danziger Flagge und die Hakenkreuzfahne gekreuzt abgebildet. Darunter
stand: "Der Deutsche grüßt Heil Hitler". Meine Mutti hat sich über dieses Schild öfters abwertend geäussert.
Mein Vater hat als Lokführer unterschiedlichen Dienst bei Tag und Nacht gehabt. Nachts habe ich einmal entdeckt, daß er mit einer Decke über dem Kopf, das Radio mit zugedeckt, Nachrichten hörte.
Erst später als Jugendlicher nach dem Kriege habe ich erfahren, daß auf Abhöhrung von "Feindsendern" die Todesstrafe stand und das mein Papa sich dieser Gefahr ausgesetzt hat.
Schräg gegenüber unserem Einfamilienhaus stand ein Zweifamilienhaus.
Es gehörte einem Herrn Nowitzki. Er war Blockleiter der NSDAP und Luftschutzwart unserer Praustfelder Siedlung. Einige Zeit nach dem Erlebnis mit den jüdischen Frauenkolonnen am Flugplatz, hatte meine Mutter eine Auseinandersetzung mit Herrn Nowitzki. Er kam ja gelegentlich mit Geldsammelbüchse und Propagandamaterial. Bei dieser Gelegenheit hat Mutti dem Blockwart Vorhaltungen über diese armen Menschen gemacht.
Herangelockt durch die laute Auseinandersetzung kam ich hinzu und hörte von Herrn Nowitzki die Drohung gegenüber meiner Mutti:"Wenn sie nicht sofort ihren Mund halten, werde ich dafür sorgen, daß sie auch dahin kommen !"
Verschreckt zog sie sich zurück und Herr Nowitzki ging. Zu einer weiteren Belästigung ist es dann nicht mehr gekommen.
Selbst habe ich danach nocheinmal auf dem Heimwege vom Jungvolk-Dienst, meine Meinung als Junge von mir gegeben. Die beiden mit mir zusammen heimgehenden Jungen machten sofort Front gegen mich.
Sprachen von Untermenschen und Sträflingen, die man gnadenlos vernichten müsse. Hier kam sicherlich auch die häusliche und allgemeine Beeinflussung junger Menschen jener Zeit zum Ausdruck. Auch kann ich mich an eine Propagandaschrift erinnern, die wie eine Illustrierte aufgemacht war. Dort waren heruntergekommene, verdreckte und ausgehungerte Menschen abgebildet. Es war von Bolschewisten und Juden als Untermenschen die Rede, die man bekämpfen müsse und von deren Vorherrschaft das deutsche Volk befreit worden ist. An diese Hetzschrift habe ich mich dann beim Anblick der Frauen auf dem Flugplatz erinnert. Irgendwie hatte ich da gefühlsmäßig einen Zusammenhang geahnt. Von dem KZ Stutthof habe ich erst nach dem Kriegsende erfahren. Und in Aachen habe ich eine ältere jüdische Dame, gebürtige Hirsch aus Haaren gesprochen, die sich an Stutthof und Arbeitseisätze im Danziger Land erinnern konnte.
Mit einem Freund habe ich dann 1996 die Gedenklstätte des KZ's Strutthof im Elsas besucht. Dort habe ich in den Ausstellungsräumen eine Karte gesehen, mit den im besetzten Europa befindlichen KZ's und Aussenstellen-Arbeitslagern. Praust war auch verzeichnet. (Leider war der Ortname nicht richtig wiedergegeben.) Unmittelbar im Frühjahr 1945, in der großen eigenen Not, als in Danzig zurückgebliebene Deutsche, lebten ja wir alle im Chaos. Der Überlebenskamf war so aufreibend, mit Hunger, Seuchen, Tod, Gewalt und Willkür der Sieger belastet, daß erst später die Fragen nach der
Schuld der Herrschaft der Nazionalsozialisten aufkamen.
Diese erste Niederschrift, die ich 1989 gemacht habe, es war mein erstes Kriegserlebnis. Denn die Beschießung der Westerplatte in Danzig, am 1. September 1939 habe ich zwar gehört, aber als 7-jähriger Junge mehr wie ein Gewitter gewertet. Ich saß zwar in diesen Tagen auf dem flachen Pappdach unseres Stallgebäudes in Danzig-Praust, und habe auch Stukas beobachtet; aber den Beginn einer schlimmen Zeit haben nur meine Eltern empfunden. Eine Begeisterung war jedenfalls in unserem Einfamilienhaus nicht vorhanden. Soviel habe ich gespürt, aber natürlich nur gefühlsmäßig in mir aufgenommen.
Erst später hat mir mein Vater, geb. 1904, damals bei der Eisenbahn als Lokführer tätig, von diesem Tag erzählt.
Er hatte um 6°° Uhr Dienstbeginn in Danzig ODZ (Olivaer Tor).
Die Eisenbahn des Freistaates Danzig stand unter polnischer Verwaltung. Dieses war nach dem Versailler Vertrag so festgelegt.
Als mein Vater zu seiner Dieststelle kam wurde er von einem dort stehenden, mit Karabiner bewaffneten Heimwehrangehörigen, festgehalten. Er mußte sich an eine Mauer stellen, wo schon andere Kollegen hingestellt waren, die als unzuverlässig galten. Es waren Polen die bei der Bahn waren und deutsche Danziger die als Antinazistische Bürger aufgefallen und vermerkt waren. Mit diesem Tage entstand das KZ Stutthof, wie wir später nach 1945 erfahren haben.
Heimwehrleute waren Angehörige der schwarzen SS, der SA und des SD, die es in Danzig schon vor 1939 gab. Die NSDAP hatte ja im Freistaat schon die Macht, nur der Anschluss ans Reich war erst mit Beginn des 2. Weltkrieges zu vollziehen.
Dieser Heimwehrmann war ein Heizer auf den Lokomotiven, die mein Vater vor 1939 gefahren hatte. Der war in der SA und wollte damals vor Kriegsbeginn meinem Vater eine SA-Zeitschrift DER STÜRMER verkaufen.
Dieses hatte mein Vater abgelehnt und ihm gesagt, er könne dieses Papier zerschneiden und es aufs Klo hängen, um damit den Hintern zu putzen, zu mehr sei es nicht wert.
Die Rache für so ein Gedankengut folgte am 1. September 1939.
Nun entkam mein Vater einer Gefangenschaft durch seinen Dienstvorgesetzten. Der fragte weshalb er dort hinzugestellt worden sei. Na so aus Antipatie des Heimwehrmannes. Und da ja Lokomotivführer ganz wichtige Leistungsträger für die kommende Kriegszeit waren, musste er seinen Dienst sofort antreten.
Erst einmal Glück gehabt und damals wusste er noch nicht welche schwerere Zeit noch kommen würde.
Meinem Vater wurde in der darauf folgenden Zeit angetragen, doch Mitglied der NSDAP zu werden. Er könne in seiner Laufbahn als Beamter aufsteigen. Dieses hat er nicht gemacht, er wolle auf der LOK bleiben.
Lokführer war er ja schon.
Als ich im Juli 1998 die KZ-Gedenkstätte Stutthof im Danziger Werder besucht habe, war ich enttäuscht das in der Denkschrift die ich erworben habe, von deutschen Verfolgten kein Wort zu lesen war. Im Gegensatz zu der Gedenkstätte Stutthof auf französischem Gebiet, war im polnischen Gebiet kein Wort deutsch als Beschriftung aufgeführt.
Nur die ausgestellten Dokumente waren in deutsch nachzulesen. Unsere polnischen Wirtsleute sagten uns, der Besuch durch Deutsche sei in Stutthof zu gering. - Klar ist aber auch, daß es einige Deutsche gegeben hat, die den Machtanspruch der Nazis nicht unterstützt haben.
Es gab auch Widerständler und die verhaftet wurden. So kannte ich einen Nachbarn, den Eisenbahner Paul Priewe, der Fahrkarten am Prauster Bahnhofseingang mit einer Zange zur Entwertung gelocht hat.
Dieser Mann hat 1936, nach Erzählung meines Vaters, zum Richtfest auf seinem kleinen Häuschen, anstatt eines Richtkranzes eine rote Fahne gehisst.
Er war ein einfacher Mann, der im 1. Welkrieg eine Hand und ein Auge verloren hatte. Immer wenn ich an seiner Sperre täglich zum Zug ging, mußte ich mir seine Lederhand und das Glasauge ansehen. Es ist mir als Mitleid in Erinnerung geblieben.
Im 2. Welkrieg nach der Niederlage in Stalingrad wurde er verhaftet und verschwand aus unserem Gesichtskeis. Er hatte die Niederlage als Ende bezeichnet und wurde abgeholt. Dieses habe ich als 11-jähriger Junge zuhause mitbekommen. Von Stalingrad wusste ich damals auch, weil ein Vetter mütterlicherseits mit ca. 25 Jahren dort vermisst blieb.
Ein Bruder meines Vaters, Rudi Völz kam schwerverwundet aus dem Kessel heraus und fiel dann doch noch 1944 vor Warschau. Die Zeitungen waren voller Anzeigen über Gefallene. In den Kirchen fanden ständig Trauerfeiern statt, bei denen mehrerer Toter gedacht wurde. Im Jahre
1944 habe ich in der Prauster evangelischen Kirche Vorkonfirmanden-Unterricht gehabt. Diese Kriegszeit habe ich schon als sehr bedrückend und leidend empfunden, weil meine Mutter mir dieses Gefühl schon vermittelt hat.